Martin Siegler

„Ein Gebäude ist für mich ein Wesen”

1998 war die Kuvertfabrik Pasing eine brachliegende staubige verdreckte allenfalls als Lagerfläche nutzbare Fläche - mit der Patina einer vergangenen Produktionsära, in der sich auch die Niederungen menschlichen Daseins wieder spiegelten: Unterdrückung, Disziplinierung, Fremdbestimmtheit.

Ich habe versucht, durch Klarheit, durch Sauberkeit und durch Verwendung  geometrischer Prinzipien - wie des goldenen Schnitts - eine neue Harmonie in dieses Gebäude zu bringen und durch Einladung und Schaffung von kreativen Freiräumen kreative Geister einzuladen, in diesem Prozess mitzuwirken, um eine Höherentwicklung, eine vielschichtigere Entwicklung zu ermöglichen.

Nicht nur die Materie bekommt ihren Platz, auch die Erotik, das Herz, der verbale Ausdruck, die Poesie, die geistige Forschung, der Traum und auch die Anbindung an das Ganze sollten Raum finden und idealerweise im Tanz zu einer Einheit verschmelzen. - Die beiden großen Tanz-  und Therapierräume sind materieller Ausdruck dafür, aber auch die Ateliers mit ihrer unterschiedlichen künstlerischen Nutzung.

Gemälde Lisa Hutter SchwahnDieses nun in 15-jähriger Arbeit aufgebaute Feld, das sich in einer ständigen Transformation befunden hat, möchte ich initiativ weiter geführt sehen – in Form von einer noch größeren Beziehung zu den Pasinger Bürgern: mehr Öffentlichkeit, evtl. offene Werkstätten – auch mit handwerklichem Bezug mit der Möglichkeit Meisterschaft auch außerhalb des beruflichen Kontextes zu begegnen und um sie auf eine leichte spielerische menschwürdige Art an die diesem Ort zu erfahren. Die Zusammenarbeit mit sozialpädagogischen Projekten, mit Jugendlichen und Kindern ist, glaube ich, die Herausforderung für den Geist dieses Gebäudes in der aktuellen Zeit.

Ein Gebäude ist für mich wie ein Wesen – wenn es geboren wird, ist es wie ein Baby, abhängig von Nahrung, bedürftig auf der materiellen Ebene. Aber wenn es sich entwickelt, meist langsamer wie ein menschlicher Organismus, entwickeln sich neue Ebenen. Das Gebäude wird vielschichtig und bekommt durch die Menschen, die es beleben Herz, Geist und Verstand. Es  erreicht, wenn man diese Entwicklung nicht vorzeitig unterbricht, z.B. durch Abriss, möglicherweise einen spirituellen Bereich, der es im Gefüge der Nachbarschaft zu einem Ruhepol und einem Feld würdevoller Stabilität werden lässt, das wohl am besten die Vorstellung von Heimat verkörpert.

Einen solchen Bewusstwerdungsprozess, den man übrigens auch bei der Entwicklung von Bäumen beobachten kann, vorzeitig zu unterbrechen, ist  in meinen Augen ein Frevel, der vor allem den Menschen den Boden unter den Füßen wegzieht und sie zu fremdgesteuerten willfährigen Konsumenten degradiert, die sich weder ihrer Wünsche noch ihrer Fähigkeiten und Talente, noch ihrer Rolle in der Geschichte bewusst sind und sich auch diese Fragen gar nicht mehr stellen. Solange die Popcorn-Maschine läuft, ist die Welt in Ordnung.